Rülf, Moritz (1888-1942)

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Moritz Rülf
Bild: Lippische Mitteilungen (1988), S. 366

Moritz Rülf (* 18. November 1888 in Kirchhain; † Todesdatum unbekannt; deportiert nach Theresienstadt am 17. Juli 1942) war ein jüdischer Lehrer und Diplom-Volkswirt.

GND http://d-nb.info/gnd/127887407
Andere Namen
Geburtsdatum 18.11.1888
Geburtsort Kirchhain
Sterbedatum
Sterbeort
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Leben

Geboren 1888 in Kirchhain im preußischen Regierungsbezirk Kassel als Sohn des Kaufmann und Viehhändlers Jehuda Rülf und seiner Frau Karoline geb. Schuster. Er hatte vier Geschwister. Der Vater starb, als er sieben Jahre alt war; daher kam Rülf 1895 in das Israelitische Waisenhaus in Kassel, wo er bis 1903 die jüdische Seminarschule besuchte, anschließend von 1903 bis 1906 die Präparandenanstalt in Burgreppach in Bayern. Von 1906 bis 1909 besuchte Rülf dann das Israelitische Schullehrerseminar in Kassel. Seine erste Lehrerprüfung für das Lehramt an Volksschulen bestand er am 23. Februar 1909, die zweite ebenda am 31. Oktober bis 2. November 1911. Seit der ersten Prüfung unterrichtete Rülf an der Israelitischen Erziehungsanstalt (Gartenbauschule) in Ahlem bei Hannover und war Klassenlehrer der Klasse I. Er unterrichtete Schulgartenbau und Handfertigkeit, dazu Botanik, Rechnen und Raumlehre. In Ahlem lernte Rülf Erika Lyon kennen (* Hamburg 1890), seine spätere Frau. Zwischen 1910 und 1912 hielt er gelegentlich vertretungsweise an hohen Feiertagen den Gottesdienst in der Synagogengemeinde in Lippstadt.

1913 bewarb sich Rülf nach Detmold als Nachfolger des Lehrers Karl Rosenthal an der jüdischen Elementarschule in Detmold um die neu ausgeschriebene Stelle eines Predigers und Lehrers. Zum 1. Januar 1914 wurde er auf die Stelle berufen, auch wenn die Elementarschule mangels Schülern eingestellt worden war. Als Prediger hatte Rülf »die Gottesdienste zu halten, die Knaben auf die Bar Mitzwa vorzubereiten, Trauungen vorzunehmen, die Trauernden zu betreuen und bei den Beerdigungen die Gebete auf dem Friedhof zu verrichten«.[1] 1915 wurde Rülf vom lippischen Synagogenverband und der Fürstlichen Regierung mit der Aufgabe der Revision der jüdischen Religionsschulen in Lippe betraut. Rülf selbst unterrichtete an diesen in Detmold, Oerlinghausen, Belle und Schwalenberg; in Detmold am Leopoldinum und am städtischen Lyzeum und in der Bürgerschule. 2015 hatte Rülf in Detmold geheiratet; der erste Sohn Herbert Jehuda wurde am 17. April 1916 in Detmold geboren; Tochter Karoline Hanna Timna am 8. Oktober 1918, Sohn Erich am 12. Juni 1921.

Rülfs Anstellung im lippischen Staatsdienst und antisemitischer Widerstand

Nach dem Krieg erhielten Rülf und seine Familie am 6. Januar 1919 die lippische Staatsbürgerschaft. Damit war eine Berufung in den Staatsdienst möglich, und der Synagogenverband bat darum, Rülf in den öffentlichen Volksschuldienst zu übernehmen. Dem entsprach die Landesregierung; am 8. Mai 1919 leistete Rülf seinen Diensteid. Am 6. Mai 1919 erreichte die Landesregierung jedoch schon eine von 629 Bürgerinnen und Bürgern Detmolds unterzeichnete Eingabe dagegen, mit der Begründung, die Bürgerschule in Detmold trage einen evangelischen Charakter und es sei nicht zumutbar, dass die Erziehung der Kinder einem »Nichtchristen« übertragen werde. Denn »Deutschchristliches Glauben und Empfinden (könne und müsse) in allen Unterrichtszweigen sich auswirken.«[2] Drei Wochen später protestierte auch der Lippische Lehrerverein. Auf ihrer Synode Anfang Juli 1919 beriet zudem die Lippische Landeskirche über den Fall; das Protokoll vermerkt ähnliche Argumente, insbesondere, dass nichtchristliche Lehrer von christlichen Schulen fernzuhalten seien und dass man Stellen für die aus dem Krieg heimkehrenden Lehrer freihalten müsse. Die Landesregierung reagierte ablehnend und empfahl dem Landtag, die Eingabe nicht zu beachten. Am 14. Juli 1919 wurde im Landtag debattiert. Als Abgeordneter der konservativen DNVP äußerte sich der Generalsuperintendent der lippischen Landeskirche Weßel mit der Aufforderung, den »konfessionellen Frieden zu wahren« und wiederholte die in der Synode und in der Eingabe vorgebrachten Argumente. Die liberale DDP und die SPD verteidigten die Einstellung und beharrten darauf, dass die Bürgerschule eben keine konfessionelle, sondern eine staatliche Schule sei; auch der Lippische Wahlverband nahm für Rülfs Anstellung Partei.

Rülf tat also seit 1919 an der Bürgerschule Dienst, und zwar als Klassenlehrer der Klasse 4b, die er 26 Stunden unterrichtete. Er gab alle Fächer, darunter Singen, Zeichnen und Turnen. Die Klasse war 59 Kinder groß, 45 Jungen und 14 Mädchen.

Im Oktober 1919 wurden in Detmold antisemitische Plakate geklebt; mitverantwortlich war der Schriftsteller Friedrich Fischer-Friesenhausen. Angeklagt wurde Fischer-Friesenhausen des groben Unfugs und der Aufreizung zum Klassenkampf. Eine Anklage wegen Beschimpfung der jüdischen Religionsgemeinschaft lehnte der Staatsanwalt ab, da es sich ja nicht um religiöse, sondern rassische Hetze handle,[3] die damals nicht strafbar war. Die Presse, vor allem die konservativ-deutschnationale Lippische Tageszeitung begleitete die Vorgänge. Im Januar 1920 wurde Rülfs Lehrtätigkeit erneut im Landtag behandelt. In den Protokollen verzeichnet sind neben den antisemitischen Anwürfen auch die kühlen Entgegnungen von Heinrich Drake (SPD) und Adolf Neumann-Hofer, der feststellte: »Wie jüdische Kinder sich von christlichen Lehrern im Rechnen unterrichten lassen, kann auch ein jüdischer Lehrer Rechenunterricht an Kindern anderen Glaubens geben.«[4] Im Juni 1920 fand das Verfahren gegen Fischer-Friesenhausen vor einem Schöffengericht in Detmold statt; in den Vordergrund des öffentlichen Interesses geriet jedoch statt der antisemitischen Hetze die sogenannte »Lockspitzelaffäre«. Nach den Verhandlungen im Gericht brachte Fischer-Friesenhausen die satirisch gemeinte Halbmonatsschrift Die Fackel heraus, in der er sich als »nimmersatter Judenfresser« bezeichnete und weiter hetzte. Fischer-Friesenhausen verließ Detmold wenige Zeit später.

Berufssschullehrer ab 1922

1922 wechselte Rülf von der Bürgerschule an die staatliche Fortbildungsschule (=Berufsschule) in Detmold, zugleich erteilte er weiter jüdischen Religionsunterricht. Am 5. November 1923 bestand mit gutem Erfolg er die Berufsschullehrerprüfung, die er ablegen musste, da er kein Gewerbelehrerseminar absolviert hatte.

Berufsbegleitend studierte Rülf selbst fünf Semester Volkswirtschaft an der Detmolder Hochschule für Staats- und Wirtschaftswissenschaften und schloss 1924 als Diplom-Volkswirt ab.[5]

Ab dem Sommerhalbjahr 1930 unterrichtete Rülf auch in der Handelsschulklasse, und zwar Buchführung und Rechnen.

Zwischen 1927 und 1929 musste Rülf um die Anerkennung seiner Berufsjahre als jüdischer Religionslehrer für seine Pensionsansprüche kämpfen und erreichte dies erst mit großer Hartnäckigkeit, nachdem Oberschulbehörde und Landespräsidium Versäumnisse nachgewiesen werden konnten. Im Oktober 1931 versuchte die Oberschulbehörde, Rülfs Stelle zu kürzen, da er als Religionslehrer eine Nebenbeschäftigung habe und nicht auf den vollen Stellenumfang angewiesen sei, und erreichte eine Kürzung um 3 Wochenstunden. 1932 entzog die Schulbehörde Rülf die Zuständigkeit für die Schülerbücherei der Handelsschule und bezweifelte — allerdings erfolglos —, ob Rülf den Titel »Handels-Oberlehrer« führen dürfe. Zum April 1933, nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, wurde Rülf als Jude in den Ruhestand versetzt, nachdem er schon am 7. März, zwei Tage nach der Reichstagswahl, einstweilig beurlaubt worden war.[6] Nach Verhaftung im Mai stellte Rülf erzwungenermaßen einen Antrag auf Entlassung aus dem Staatsdienst zum 1. Mai 1933, womit er seinen Anspruch auf Ruhegehalt verlor.

Neben seiner Lehrtätigkeit hatte Rülf zahlreiche Ehrenämter wahrgenommen. Wa war er Leiter des Jüdischen Jugendbundes und Schriftführer im Israelitischen Gemeindetag für den Freistaat Lippe. Seine Frau Erika war Schriftführerin m Jüdischen Frauenbund, der älteste Sohn Herbert Leiter des Jüdischen Pfadfinderbundes in Detmold.

Nach 1933 bis zu Deportation und Ermordung

1934 bewarf Rülf sich erfolglos auf die Stelle eines Lehrers bei der Synogogengemeinde in Hildesheim; für die Bewerbung bescheinigte ihm die nun nationalsozialistische lippische Landesregierung immerhin eine tadellose Erfüllung seiner dienstlichen Pflichten in Detmold.[7] Rülf blieb also in Lippe und verdiente sich seinen Lebensunterhalt weiter als Wanderlehrer, der die jüdischen Kinder besuchte und unterrichtete. Zu den hohen Feiertagen hielt er in der Detmolder Synagoge Gottesdienst.

1937 machten Rülf und seine Frau eine Reise nach Palästina, um ihren Sohn Herbert zu besuchen. Eine Einwanderungserlaubnis hätten sie zu diesem Zeitpunkt nicht bekommen können. Zum 31. Dezember 1937 legte Rülf sein Amt als Prediger der Detmolder jüdischen Gemeinde nieder, um Direktor des Israelitischen Kinderheims in Köln zu werden.[8] Die Anerkennung für seine Arbeit zeigt sich daran, dass er am 29. Januar 1942 zum Vorstand der Kölner Synagogengemeinde gewählt wurde. Das Kinderheim wurde großen Teil am 20.-24. Juli 1942 nach Minsk bzw. in das Vernichtungslager Maly Trostincec deportiert. Rülf und seine Frau befanden sich bei diesem Transport. »Es ist davon auszugehen, dass auch das Ehepaar Rülf zu den Menschen gehörte, die umgehend nach ihrer Ankunft ermordet wurden.«[9]

Werke

Selbständige Veröffentlichungen

  • Worte anläßlich der Trauerfeier am 30. März 1920 für Fräulein Irma Eichmann: geboren den 12. Februar 1895, gestorben den 25. März 1920. - Detmold, [1920]. - 8 S. - 02-18 L 4230
  • Stammbaum der Familie Eichmann: 1660 - 1931 ; aufgestellt aufgrund aktenurkundlicher Forschung. - [Detmold], [1931]. - XV, 34 S. : Ill., graph. Darst. - 02-LH 303.4°


Beiträge

  • Die "Fürst-Leopold-Akademie für Verwaltungswissenschaften" in Detmold. - In: Allgemeine Zeitung des Judentums vom 11.3.1917.
  • Ahlems pädagogische Bedeutung. - In: Erlebtes und Erreichtes. Eine Jubiläumsschrift vom Verein Ehemaliger Ahlemer. Hannover-Linden 1929, S. 12-13.
  • Die Geschichte der Juden in Lippe. - Lippischer Kalender 1933, S. 69 - 73. - https://digitale-sammlungen.llb-detmold.de/periodical/pageview/6294249
  • 50 Jahre Jüdisches Kinderheim in Köln. - In: Jüdisches Nachrichtenblatt / [Ausgabe Berlin] (12.07.1940, Nr. 055: 6).

Literatur

Weblinks

Status der Seite

Quelle: Müller 1988; Mitschke-Buchholz

5.3.2024 angelegt

Fußnoten

  1. Müller 1988, S. 376. https://digitale-sammlungen.llb-detmold.de/periodical/pageview/5766286 .
  2. Text der Eingabe zitiert bei Müller 1988, S. 384-385.
  3. Müller 1988, S. 394.
  4. Zitiert nach Müller 1988, S. 390.
  5. Er schrieb eine Diplomarbeit zum Thema »Die moderne Berufsschule in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung und Kritik der bisherigen in Lippe bestehenden Einrichtungen«. Diplomarbeit an der Hochschule für Staats- und Wirtschaftswissenschaften 1924; nachgewiesen bei Müller 1988, S. 407, Fn. 172.
  6. Müller 1988, S. 418-419.
  7. Müller 1988, S. 421.
  8. Müller 1988, S. 427.
  9. Mitschke-Buchholz.